
Im Rahmen der KirchenBlatt-Serie teilt P. Martin Werlen seine Gedanken zum Advent. Der Schweizer Benediktiner war von 2001 bis 2013 Abt des Klosters Einsiedeln und ist seit August 2020 Propst in der Propstei St. Gerold.
Im Rahmen der KirchenBlatt-Serie teilt P. Martin Werlen seine Gedanken zum Advent. Der Schweizer Benediktiner war von 2001 bis 2013 Abt des Klosters Einsiedeln und ist seit August 2020 Propst in der Propstei St. Gerold.
Es gibt die Haltung der Erwartung, die auf eine bestimmte Lösung fixiert ist. So haben zum Beispiel die Schriftgelehrten und die Pharisäer den Messias erwartet, aber sie hatten ganz genaue Vorstellungen, wie sich diese Erwartung erfüllen wird. Und so waren sie nicht fähig, in Jesus den Messias zu erkennen – denn er war anders, als sie ihn erwartet hatten. Das passiert auch uns immer wieder. Wir erwarten und sehen nur eine mögliche Erfüllung unserer Erwartung. Wir sind verkrampft in unseren eigenen Vorstellungen. Es kann gar nichts Neues geschehen, denn mit einer solchen Haltung sind wir in unseren eigenen kleinen Horizont eingesperrt. Wenn es nicht so eintrifft, wie wir es erwarten, sind wir enttäuscht und frustriert. Und wenn es tatsächlich so eintrifft, können wir uns gar nicht richtig freuen, denn wir nehmen die Erfüllung als Selbstverständlichkeit an. Statt uns zu freuen, antworten wir vielleicht sogar mit dem Vorwurf, dass diese Erfüllung schon längst hätte eintreffen sollen. Wir stehen vor vielen Problemen und Herausforderungen – in der Gesellschaft und auch in der Kirche. Durch die Fixierung auf eine bestimmte Weise der Erfüllung verunmöglichen wir oft eine Lösung. Und wenn Gott uns eine andere Lösung schenken möchte, die nicht unseren Erwartungen entspricht, sind wir dafür blind. Diese Art von Erwartungen machen das Leben schwer, das eigene und auch das von anderen.
Wer auch immer eine Verantwortung trägt, kann in all den Anforderungen, die – berechtigterweise oder nicht – herangetragen werden, an die Grenzen der Kräfte kommen. Aber auch Weisungen von Seiten der Verantwortlichen – zum Beispiel der Eltern oder der Vorgesetzten in der Arbeit – können als Erwartungen wahrgenommen werden, die stressen und einengen. Immer wieder müssen wir uns fragen: Stehen meine Erwartungen, die ich an andere habe, im Dienst meiner kleinkarierten Interessen oder im größeren Blick für das Wohlergehen vieler? Wir können dankbar sein, wenn wir den Stress, der durch Erwartungen ausgelöst wird, am richtigen Ort zur Sprache bringen dürfen. Ansonsten sind wir schnell dabei, auf die stressigen Erwartungen mit nonverbalem Protest zu reagieren: Fernbleiben, schweigen, eigene Wege gehen, Beziehungen abbrechen.
Es gibt aber auch die Erwartung, die für Überraschungen offen ist. Jesus sieht sie vor allem in den Menschen, die einander nicht mit Ansprüchen begegnen, sondern in aller Offenheit: Kinder, Arme, Sünder. Sie erwarten – und sie sind dankbar, wenn sie Erfüllung erleben dürfen. Auch und besonders dann, wenn sie ganz anders aussieht, als sie sich das vorgestellt haben. Denken wir an das Staunen eines Kindes, an die strahlenden Augen eines Menschen, der beschenkt wird. Hier ist nichts vom Recht auf eine Erfüllung zu spüren, sondern tiefe Dankbarkeit.
Vor 60 Jahren ist das Zweite Vatikanische Konzil zu Ende gegangen. Es hat viele Erwartungen geweckt: solche, die offen sind für Überraschungen und solche, die auf eine bestimmte Lösung fixiert sind. Papst Johannes XXIII., der das Zweite Vatikanische Konzil einberufen hat, war ein besonders begnadeter Mensch – auch bezüglich Erwartungen. Von ihm erwartete man nicht viel. Er war als Übergangspapst deklariert. Er musste nicht unter zu großen Erwartungen leiden. Vielleicht war das auch ein großer Beitrag an die Freiheit, mit der er die Aufgabe wahrgenommen hat, die ihm im hohen Alter anvertraut wurde.
Wir leben in einer besonderen Zeit der Erwartung. Erwartungen gehören zu unserem Leben. Es ist gut, wenn wir sie immer wieder kritisch betrachten: sind sie offen für Neues oder verschließen sie in den eigenen begrenzten Denkhorizont? So tragen wir bei, was der selige Carl Lampert (1894–1944) und die dichtende Nonne Silja Walter (1919–2011) uns ans Herz legen. Ihre schlichten und zugleich tiefen Gedanken können uns durch diese Adventszeit begleiten.
„dass Menschen wieder
Menschen werden“
Carl Lampert
„Man muss Gott bloss einlassen, dann wird er wieder Mensch der Mensch.“
Silja Walter