
Im Rahmen der KirchenBlatt-Serie teilt
P. Martin Werlen seine Gedanken zum Advent. Der Schweizer Benediktiner war von 2001 bis 2013 Abt des Klosters Einsiedeln und ist seit
August 2020 Propst in der Propstei St. Gerold.
Im Rahmen der KirchenBlatt-Serie teilt
P. Martin Werlen seine Gedanken zum Advent. Der Schweizer Benediktiner war von 2001 bis 2013 Abt des Klosters Einsiedeln und ist seit
August 2020 Propst in der Propstei St. Gerold.
Selbstverständlich sind wir in der Zeit der Erwartung nicht einfach passiv. Vielmehr bereiten wir uns auf das Ereignis vor, so gut wir das nur können. Wir alle haben schon viele solche Erfahrungen gemacht. Ich denke zum Beispiel an Eltern, die ein Kind erwarten. Das ist nicht eine Zeit des Abwartens, sondern tatsächlich des Erwartens. Die Wohnung wird neu eingerichtet, Kleider werden gekauft, Kurse werden besucht, Informationen werden im Internet gesucht. Wie froh sind wir, wenn wir die Erfahrung des Erwartens auch mit anderen Menschen teilen können – selbstverständlich mit Menschen, denen wir vertrauen. Denn etwas, das uns zutiefst bewegt, teilen wir nicht mit jedem Menschen.
Wir alle haben viele solche Erfahrungen gemacht. Aber leider sind und bleiben sie oft unter dem Schutt des Alltags begraben. Doch es lohnt sich, sie wieder in Erinnerung zu rufen. Wenn das gelingt, werden wir die damaligen Gefühle wieder erahnen und vielleicht sogar wahrnehmen können. Wie können wir das angehen? Ich schlage vor, sich bis Weihnachten jeden Tag fünf Minuten Zeit zu nehmen, um sich an einen Ort zurückzuziehen, wo wir nicht sofort wieder in den Alltag zurückgerufen werden. Das kann eine stille Ecke in der Wohnung sein, ein Spazierweg, der Wald, eine Bank (vorzüglich eine zum Sitzen…), ein Kirchenraum oder eine Kapelle. Selber gehe ich gerne an Orte, an denen viele Menschen sind, die mich aber nicht in Anspruch nehmen. Das erfahre ich beim Bahnfahren und an Bahnhöfen. Dort kann ich in besonderer Weise Menschen in ihren Erwartungen wahrnehmen und meine eigenen Erwartungen wachrufen. Darüber will ich aber in einer Woche mehr erzählen.
Diese fünf Minuten jeden Tag bis Weihnachten können zu einem faszinierenden Adventskalender werden. Das ist eine wichtige Übung, weil wir sonst tatsächlich in der Gefahr sind, das freudige Erwarten zu verlernen. Dann droht der Alltag leer zu werden. Wir beginnen zu funktionieren und vergessen, wirklich zu leben. Der Slogan „Work-Life-Balance“ zeugt davon. Wenn die Arbeit nicht mehr Leben ist, dann sind wir erbärmlich dran. Wir brauchen nicht eine Work-Life-Balance, sondern eine Life-Balance, das heißt die Balance zwischen allem, was zum Leben gehört. Alles soll seinen Platz haben – auch die Erinnerungen, die Erwartungen, die Gefühle, Momente der Stille. Jeden Tag öffnen wir im Adventskalender ein anderes Türchen und lassen in uns Zeiten der Erwartung wachwerden, die uns bereits geschenkt wurden – von unserer Kindheit bis heute. Wir geben ihnen Raum und Zeit. Dabei staunen wir, welche reiche Erfahrungskiste wir mittragen, die so viele Kostbarkeiten enthält.
Der Blick aus dem Fenster meines Zimmers erinnert mich jeden Morgen ganz neu und überraschend anders an die Kraft des Erwartens. An keinem Morgen sieht es gleich aus, wie an einem früheren Morgen. Die Sonne kündet sich bereits an, aber sie ist noch nicht da. So lerne ich, den neuen Tag zu erwarten. Das hilft mir, nicht einfach in den Tag hinein zu leben. Manchmal gelingt es besser, manchmal weniger. Aber am nächsten Morgen darf ich es wieder neu wagen. Jeder Tag ist eine Einladung, nicht einfach dahinzuleben oder zu überleben, sondern zu leben. Eine wichtige Lehrerin auf meinem Lebensweg ist die dichtende Nonne Silja Walter (1919-2011). Sie vermag viele Menschen zu wecken. Ihre Texte und Bilder begleiten mich und halten mich – mehr oder weniger erfolgreich – wach.