
Du sollst den Herrn deinen Gott lieben;
und deinen Nächsten wie dich selbst.
Gott lieben, ok, das kann sich vielleicht ein gläubiger Christ, eine gläubige Christin noch halbwegs gut vorstellen. Aber hier wird viel mehr noch gefordert: den Nächsten, die Nächste zu lieben, jeden, jede, die mir begegnet. Schier unmöglich? Doch was wäre, wenn wir den Begriff der Liebe synonym verstehen würden mit Respekt, mit würdevollem Umgang, mit dem, was uns Menschen entspricht? Wäre das nicht wunderbar, wenn wir jedem, jeder mit diesen Haltungen begegnen würden?
Wir wandeln durch den Alltag, oft ohnmächtig angesichts der Welt, die sich vor unserer Haustür zeichnet. Wir sind nicht allein und das ist auch gut so. Es hängt nicht von uns allein ab, wie sich unser Leben, unser Tag oder die nächsten Stunden gestalten. Angesprochen, aufgehalten oder sogar ausgebremst: Sei es von der Person, die vielleicht die U-Bahn zu langsam betritt, die Schlange im Supermarkt aufhält oder die mich in der Hektik des Alltags um einen Gefallen bittet.
Und genau hier liegt es an uns, den markanten Unterschied zu machen, uns selbst zurückzunehmen, uns in den anderen hineinzuversetzen. Was bewegt diesen Menschen? Was geht in ihm vor? Ist er traurig? Ist er glücklich? Ihn in seinem Menschensein zutiefst wahrzunehmen, das in ihm zu sehen, eben das, was uns alle verbindet.
Wenn wir von diesem Menschsein, das uns allen innewohnt, ausgehen; mehr noch, es bewusst wahrnehmen, es ernst nehmen, ja, dann scheint die Aufforderung zur Nächstenliebe, zum Respekt, zu einer der menschlichen Würde angemessenen Umgangsform gar nicht mehr so grotesk zu sein, wie sie anfangs anmutet.
Katharina Schindelegger (33) ist Theologin und Journalistin. Sie ist in den Pfarren Ober Sankt Veit und Unter Sankt Veit – Zum Guten Hirten (Wien 13) als Pastoralassistentin tätig. sonntag@koopredaktion.at