
Die Wahrnehmungspsychologie zeigt es: Wir brauchen ungefähr eine Zehntelsekunde, um uns einen ersten Eindruck von einer Person zu verschaffen und sie einzuordnen. Wir beurteilen also sehr schnell. Aus Sicht der Evolution ist diese Fähigkeit überlebenswichtig, mussten sich unsere Vorfahren doch rasch orientieren, wenn sie neuen Menschen begegneten. In der Welt von Social Media ist die Tendenz extrem ausgeprägt: Ein Blick – gefällt mir nicht – wisch‘ ich weg. Das Gegenüber hat keine Chance.
In diese Situation hinein spricht das Evangelium eine klare Sprache. Das „Richtet nicht!“ und „Verurteilt nicht!“ vom letzten Sonntag wird diese Woche verfeinert. Die Bilder, die Jesus dafür wählt, waren damals eingängig und sind heute noch für jeden verständlich. Splitter und Balken, morsche und gesunde Bäume, Dornen und Früchte.
Zwei Gedanken dazu möchte ich in die Mitte stellen: Jesus nimmt uns mit diesen Beispielen das Instrument, uns besser zu fühlen als die anderen. Wir haben kein Recht, uns über Menschen zu stellen und Macht auszuüben. Wir haben selber Balken in den Augen. Das heißt Machtverlust – und der kann ärgerlich machen, die Pharisäer damals und Machthabende heute. Die Forderung ist freilich unmissverständlich. Zugleich legt Jesus eine neue Messlatte an: die der Barmherzigkeit. Man darf von Disteln nicht erwarten, dass sie Feigen tragen, aber sehr wohl, dass sie ihrer Art entsprechend gedeihen. Jesus verlangt nicht, dass ich etwas erfülle, was ich sowieso nicht schaffe. Er bietet mir an, mich der Barmherzigkeit Gottes anzuvertrauen. Dann wird mein Herz von Gott erfüllt sein und mein Mund vor Freude übergehen.
Maria Plankensteiner-Spiegel war bis 2023 Leiterin des Bischöflichen Schulamtes der
Diözese Innsbruck. Kontakt: