Von Petra Steinmair-Pösel
Am Morgen ganz früh aufstehen, obwohl es noch stockfinster ist und auch noch eine ganze Weile so bleiben wird. Durch die Kälte, manchmal auch durch Schneegestöber und eisigen Wind, in die Kirche gehen, die nur vom warmen Schein einiger Kerzen erleuchtet ist. Den Duft des Weihrauchs einatmen. Wieder die uralten, sehnsuchtsvollen Lieder singen - „Tauet Himmel den Gerechten …“. Den verheißungsvollen Texten lauschen und mich dabei in die lange Tradition jener stellen, deren Hoffnung über das Mess- und Kalkulierbare, ja das Menschenmögliche hinausreicht.
Sie spüren: Die adventlichen Rorate-Gottesdienste sind für mich emotional aufgeladen, wie wenige andere kirchliche Liturgien. Und sie erscheinen mir – gerade angesichts der großen umwelt- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen, der nicht enden wollenden Kriege und der sich dadurch bisweilen breitmachenden Visions- und Hoffnungslosigkeit – unglaublich aktuell. Denn sie verbinden uns mit Menschen längst vergangener Zeiten und deren Hoffnung auf ein aufleuchtendes Licht inmitten der Finsternis: „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf.“ (Jes 9,1)
Benannt sind die Rorate-Messen nach dem lateinischen Introitus „Rorate caeli desuper et nubes pluant iustum“, der einen Ruf des Propheten Jesaja aufgreift: „Taut, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken, lasst Gerechtigkeit regnen! Die Erde tue sich auf und bringe das Heil hervor, sie lasse Gerechtigkeit sprießen.“ (Jes 45,8) Entstanden sind diese Verse in der Zeit des babylonischen Exils (ca. 586–539 v. Chr.). Das Volk Israel hatte Jerusalem und den Tempel verloren und lebte in Gefangenschaft unter der Herrschaft Babylons, wo andere Götter verehrt wurden. So war die Situation geprägt von Hoffnungslosigkeit und der Frage nach Gottes Treue.
Eingebettet ist der sehnsuchtsvolle Ruf des Propheten in Verheißungen über Kyrus, einen persischen König, der als von Gott „Gesalbter“ (hebräisch maschiach) bezeichnet wird, ein außergewöhnlicher Titel für einen nichtisraelitischen Herrscher. Dieser Kyrus wird als Werkzeug Gottes dargestellt, das Israel aus der babylonischen Gefangenschaft befreien und die Rückkehr nach Jerusalem ermöglichen wird.
„Taut, ihr Himmel, von oben“ ist damit Ausdruck der Hoffnung auf das Eingreifen eines Gottes, der trotz der Erfahrung von Gefangenschaft und Exil als Herr über die gesamte Schöpfung und die kosmische Ordnung verehrt wird. Ein poetisches Bild für das Herabkommen von Gerechtigkeit und Heil, die die Erde durchdringen und heilen sollen. Es richtet sich sowohl auf politische Befreiung als auch auf eine tiefe, spirituelle Erneuerung.
Im christlichen Kontext wird der Vers nicht nur als Verheißung des Kommens Christi gedeutet, sondern gerade im Advent auch als Einladung verstanden, sich für die Gegenwart Gottes im eigenen Leben, oder – wie es die Mystiker:innen sagen – die Gottesgeburt im eigenen Herzen, zu öffnen. Der frühmorgendliche Gang in die Rorate kann dabei helfen, diese Tage achtsam zu erleben und der Sehnsucht nach der heilsamen Nähe Gottes Raum zu geben.
Aus dem KirchenBlatt Nr. 44 vom 28. November 2024. Zum Login der Digital-Ausgabe
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