Der Mensch macht sich selbst zum Objekt, das sich auf Linie trimmt?
von Schirach: In dem Nachfolgebuch „Du sollst nicht funktionieren“ habe ich beschrieben, wie wir begonnen haben, den Rest unserer Selbst- und Weltbeziehungen zu erfassen, zu kontrollieren und zu managen. Es entstand ein Bilanzblick, wo du alle deine Assets zugleich pushst und auf Linie bringst. Das Ergebnis sieht oft gut aus. Aber fühlt sich selten gut an, weil alles Dunkle, Krumme, Widersprüchliche, oder Traurige, Langsame, Zweifelnde da ist, auch wenn wir es nicht sehen oder ausdrücken wollen.
Welche Rolle spielen da die Sozialen Medien?
von Schirach: Die Sozialen Medien sind zutiefst ambivalent und tendenziell toxisch. Ambivalent sind sie, weil sie denen, die etwas zu sagen haben, Reichweite bringen und den anderen auf historisch neue Weise das Gehirn zumüllen. Ich selbst mag mein Insta und mein FB und mein LinkedIn, weil ich sie als Website benutze und dort meine Veranstaltungen oder Interviews veröffentliche. Aber wer nichts zu erzählen oder zu verkaufen hat, verkauft sich selber. Und das ist noch gefährlicher als das gute alte Leistungsdenken, weil man den ganzen Tag an einem Bild von sich arbeitet, das weder wahr noch tragfähig ist. Hier kommt auch die Frage nach der Eigenlogik ins Spiel: die Sozialen Medien machen gezielt süchtig, sie laden zum Angeben, Lügen und Vergleichen ein. Damit fördern sie nicht das Beste in uns, sondern das Kleinste und Mieseste.
Wie kann hier eine Gegenstimmung aussehen?
von Schirach: Ein Anfang wäre, genauer darüber nachzudenken, was denn das Beste in uns und das Schlechteste in uns ist. Wovon wollen wir mehr, wovon weniger? Was tut mir persönlich gut, was gibt mir Sinn, macht mich glücklich? Das Gras ist nicht grüner auf der anderen Seite, sondern dort, wo wir es wässern. Aber alles hat seinen Preis. Schon die alten Griechen wussten, dass nicht nur reich ist, wer viel hat, sondern eher der, der wenig braucht. Gewiss ist auch, dass Zeit letztlich kostbarer ist als Geld. Du brauchst Zeit, um über die Welt nachzudenken. Du brauchst Zeit, um das, was dir so serviert wird, in eigene Antworten zu verwandeln. Das betrifft uns alle – und natürlich auch die Lehrer und Lehrerinnen. Sie müssen den Lernstoff vermitteln, aber sie sollten vielleicht auch wissen lassen, dass man über alles, was selbstverständlich scheint, nachdenken kann. Und während sie der Bewegtheit der Welt ihre eigene Beweglichkeit entgegensetzen, müssen sie zugleich etwas von dem vermitteln, was immer gültig ist: Dass die Starken die Schwachen schützen müssen. Dass Geben edler ist als Nehmen. Und dass es schön ist, dass ihre Schülerinnen und Schüler und Diverse da sind, genauso wie sie sind und dass sie sich am Leben freuen sollen, weil sich das Leben dann auch an ihnen freuen wird.
Was Sie beschreiben scheint einen Platz für Spirituelles nicht auszuschließen.
von Schirach: Wir haben vor lauter Selbstoptimierung und Konsum und Profitgier vergessen, dass der Mensch innen größer ist als außen. Wir besitzen alle einen Geist und wir können und müssen ihn benutzen, um uns im Leben zurechtzufinden. Das ist mein re-entry der Spiritualität, die ich zunächst schlicht als geistiges Vermögen des Menschen begreife, selbst auf sein Menschsein zu antworten. Wir können antworten, aber wir müssen nicht. Aber – schauen wir uns nochmal um – wir sollten (lacht). Wenn oben das Licht angeht wird unser Innenraum ein helles Zimmer, in dem wir die Fragen nach dem Besseren und Schlechteren, nach dem, was wir wollen und was wir wollen sollen, ebenso erfassen können wie die Gestalt unserer Träume und Sehnsüchte, Ängste und Versäumnisse. Diese geistige Welt setzt dem spätkapitalistischen Außen wieder ein persönliches Inneres entgegen. Und da jeder Mensch einen Geist besitzt, entdecken wir dort auch, dass uns alle mehr verbindet als trennt: die Notwendigkeit, uns zu entscheiden und damit die Möglichkeit, uns für etwas zu entscheiden, was die Welt, den anderen und uns bereichert. Immer wieder neu.
Ist das vielleicht nicht nur ein re-entry, sondern damit auch eine Wiederentdeckung des Spirituellen?
von Schirach: Platon hat einmal gesagt, es gibt kein Lernen, nur ein Erinnern. Ich habe an dem großen Mann einiges auszusetzen, aber das ist ein wunderschöner Gedanke – vor allem wenn es um die Dinge geht, die in der Bewegung das Bleibende suchen. Wir müssen ja nicht das Rad neu erfinden, sondern dem, was ist, mit unserem eigenen Leben Bedeutung verleihen. Das gilt auch für die Dinge, die uns glücklich machen und das sind vor allem Beziehungen. Am wichtigsten sind tiefe, echte Beziehungen zu anderen Menschen, in denen wir uns in unserer Ganzheit, die immer auch eine widersprüchliche, krumme, fehlerhafte Seite hat, zeigen können. Auch die Beziehung mit der Natur beschenkt uns zuverlässig. Denn egal wie klein oder aufgebläht wir ins Grüne gehen, wenn wir eine Weile in der Natur sind, sind wir weder groß noch klein, sondern genau richtig. Die dritte Beziehung betrifft unseren Umgang mit unserem eigenen Inneren: wenig macht glücklicher als inneres Wachstum. Neues lernen, Anderes sehen, Ungewohntes zulassen macht das Innere weit und schärft unsere Urteilskraft. Und irgendwann spiegelt sich in unserem kleinen Geist vielleicht auch etwas von der unermesslichen Weite des Kosmos.
Ist der Mensch also ein spirituelles Wesen?
von Schirach: Er ist auf jeden Fall ein geistiges Wesen, auch wenn er allzu leicht vergessen kann, dass er einen Geist besitzt. Aber es ist schon alles recht fragend angelegt, das Ganze, denn das Leben ist ja immer auch Störung und Zumutung, Liebe und Krankheit, umrahmt von schwarzen Löchern, und beobachtersensitiven Quanten, ich will sagen: Ist es nicht seltsam hier? Und staunenswert? Und herzzerreißend schön?
Wie war Ihr Weg zur Philosophie und welche Fragen treiben Sie da an?
von Schirach: Ich hatte eine etwas traurige Kindheit und musste schon früh selber Dinge finden, für die es sich zu leben lohnt. Und ich habe sie gefunden: in Freundschaft und Liebe, Katzenfell und Fliederduft, im Essen, im Albern und in den Büchern. So bin ich bei der Ethik gelandet und dann bei der Philosophie. Im Philosophiestudium habe ich dann begriffen, dass ich mit diesen Fragen nach dem, was taugt und trägt beileibe nicht die Erste war (lacht). Nein, nein, es gibt eine ganze Tradition von Menschen, die über das Menschsein, das Staunen und das gute Leben schon seit Jahrtausenden nachdenken und das ist auch mein philosophisches Thema – die Lebenskunst.
Finden Sie mehr Fragen oder Antworten darauf?
von Schirach: Antworten gibt es viele, aber schöner ist es doch, ins Fragen zu kommen. An einem ganz normalen Tag scheint uns alles fest gefügt, aber eigentlich könnte alles ja auch ganz anders sein. Wir könnten ganz anders sein. Ein Mensch zu sein heißt darüber nachzudenken, was es bedeuten kann, ein Mensch zu sein, und jeder und jede von uns gibt mit seinem Leben eine ganz persönliche Antwort darauf. Je individueller, durchdachter, persönlicher die Antwort, desto sinnvoller fühlt sich das eigene Leben an. Das braucht eben Zeit. Aber es ist auch kein Selbstgespräch, sondern eine große Unterhaltung, bei der je nach Perspektive nicht nur die anderen Menschen, sondern auch die Bäume und Berge mitreden, die Tiere, die Serverfarmen und der Müll.
Welche Rolle kann Schule da spielen?
von Schirach: Schule ist der Ort, an dem ein Mensch zum ersten Mal Gemeinschaft jenseits der Familie erfährt. Sie kann ein Ort sein, an dem junge Menschen lernen können, Perspektiven und Haltungen zu unterscheiden, und zugleich angehalten werden, das zu wählen, was guttut: Freundschaft und Fairness, Zivilcourage und Empathie, und natürlich auch ein erstes Gefühl für die ganz eigenen Talente. Diese Werte können eine Gegenwelt zu Konkurrenz und Ausbeutung erfahrbar zu machen in Ritualen, in Geschichten, durch Bildung. Und Herzensbildung. Denn Schule ist auch der Ort, an dem wir lernen können, dass der andere wie ich ist – der fühlt wie ich, der leidet wie ich, der hofft wie ich.
Sprechen wir da von etwas, was man als christliche „Werte“ bezeichnen könnte?
von Schirach: Christliche Werte sind diesbezüglich einfach universale Werte. Es ist doch immer das gleiche: Habe Achtung vor dem Leben, habe Freude am Leben, gib dem Leben etwas zurück. Die Frage nach dem „Warum“, ist eine alte Frage und die Antworten sind alte Antworten, die wir immer neu mit Leben füllen. Und das betrifft gerade nicht nur unsere persönlichen Entscheidungen, sondern auch den Umgang mit der Technik. Künstliche Intelligenz kann Bürokratie ersparen oder Machtverhältnisse reproduzieren – je nachdem, mit welcher Absicht wir sie benutzen.
Wie wichtig wird es in Zukunft sein, „echt“, authentisch zu sein?
von Schirach: Der wahre Beruf des Menschen ist es, zu sich zu kommen. Und der Beruf des Philosophen ist es, ihn daran zu erinnern. Die uralte Frage nach dem Menschen wird gerade auf eine atemberaubende Weise neu gestellt: Weil die Welt brennt, weil wir in einer massiven Krise sind, die sich zuspitzt und die auf allen Ebenen nach Antworten verlangt, die wir gerade schwer imstande sind zu geben. Jeder neue Player der da hineinkommt, wie jetzt die KI, wird uns nur noch mehr zur Frage treiben: Aber was ist denn der Mensch? Nun ja. Der Mensch ist das Wesen, das sich entscheiden kann.
Eine Entscheidung zur Hoffnung?
von Schirach: Ich erzähle jetzt einen Witz: Jesus sitzt auf einer Bank und eine junge Frau fragt ihn: Jesus, ich bin von der Welt so entsetzt. Die Kinder sterben, die Flüsse sind vergiftet, es ist Krieg und jetzt kommt auch noch die KI. Es ist so schrecklich. Wie konntest du das nur zulassen? Und Jesus sagt zu ihr: Weißt du, ich wollte dich gerade dasselbe fragen.
Diese menschliche Verantwortung ist das, was uns verbindet, und doch ist sie eine zutiefst persönliche Angelegenheit. Ich glaube an den Einzelnen. Und an einen Satz von Rumi, dem Sufi-Dichter, der sagt: Früher war ich klug, da wollte ich die Welt ändern. Heute bin ich weise und ändere mich. Wenn wir wachsen, etwas beitragen wollen, dann sind wir eingeladen, den Platz, an den uns das Leben gestellt hat, aufgeräumter zu hinterlassen, als wir ihn vorgefunden haben. Das Mensch-Sein ist eine Schule der Freiheit und die Energie der Krise ist es, sie als Einladung zu verstehen.
Ariadne von Schirach
ist Philosophin, Soziologin, Kritikerin und Autorin. Sie unterrichtet Philosophie und chinesisches Denken an verschiedenen Hochschulen und hält Vorträge im In- und Ausland. Als Sachbuch-Autorin beschäftigt sie sich in „Der Tanz um die Lust“, „Du sollst nicht funktionieren“ und „Die psychotische Gesellschaft“ u. a. mit der Idee der Lebenskunst. Alle drei wurden zu Bestsellern. Im Herbst 2021 erschien ihr neuestes Buch, „Glücksversuche. Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen“.
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